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Rätselgedichte, Rätselreime

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Theorie und Literatur der deutschen Dichtungsarten

von Dr. Philipp Mayer

Ein Handbuch zur Bildung des Stils und des Geschmacks
Nach den besten Hilfsquellen bearbeitet von Dr. Philipp Mayer
Erster Band
Gedruckt im Verlage bei Carl Herold
Wien, 1824

Anmerkungen des Herausgebers

Rechtschreibung: Das Original dieses Buches ist 1824 erschienen und folgt der damals gültigen Rechtschreibung ("daß", "Litteratur", "Räthsel", usw.). Wir haben die Rechtschreibung den heutigen Gepflogenheiten angepasst – mit einigen Ausnahmen: Zum einen die Titel zitierter Werke und zum anderen Zitate, die schon damals nicht der Rechtschreibung entsprochen haben und vom Autor absichtlich in Original belassen wurden.

Fußnoten: stehen im Original am Ende der jeweiligen Seite; wir haben sie ans Ende des Dokuments gestellt und verlinkt: 1) Dies hier ist ein Beispiel für eine Fußnote.

Verlinkungen: Wir haben auch viele Links eingefügt; teils auf unsere eigenen Seiten, teils auf Lexika und Enzyklopädien. Externe Links sind mit einem Pfeil gekennzeichnet.

Von dem Rätsel

Insofern in dem Rätsel ein Gegenstand oder Begriff durch ein ähnliches Bild umschrieben und verhüllt wird, kann man dasselbe als eine Parabel ansehen. Doch unterscheidet sich das Rätsel von jener darin, dass es nicht auf Anschaulichmachung eines moralischen Satzes als Bestimmungsgrund des Handelns, sondern nur auf Verhüllung abgesehen ist. Eine notwendige Eigenschaft des Rätsels ist Bestimmtheit, worunter man das Erfordernis versteht, dass die Ähnlichkeit des Bildes auf den zu erratenden Gegenstand ausschließend passe, weil sonst der Enträtselnde leinen sicheren Anhaltspunkt hätte.

Nur dann, wenn das verhüllende Bild für die Einbildungskraft auf eine ideale Weise anschaulich gemacht wird, gehört das Rätsel zu den poetischen Darstellungen. In diesem höhern Sinne ward dasselbe aber nur von Wenigen bearbeitet. Treffliche Rätsel der Art hat Schiller geliefert, welche sämtlich als Muster erscheinen. Bei einigen ist noch das Eigentümliche der Parabel auf höchst anziehende Weise beigemischt. Zum Beispiel:

Der Mond und die Sterne

Auf einer großen Weide gehen
Viel tausend Schafe silberweiß;
Wie wir sie heule wandeln sehen,
Sah sie der allerält'ste Greis.

Sie altern nie, und trinken Leben
Aus einem unerschöpften Born,
Ein Hirt ist ihnen zugegeben
Mit schön gebognem Silberhorn.

Er treibt sie aus zu gold'nen Thoren,
Er überzählt sie jede Nacht,
Und hat der Lämmer kein's verloren,
So oft er auch den Weg vollbracht.

Ein treuer Hund hilft sie ihm leiten,
Ein munt'rer Widder geht voran;
Die Herde kannst du sie mir deuten,
Und auch den Hirten zeig' mir an.

Schiller.

Einige Abarten des Rätsels sind: die Scharade, der Logogriph, Homonyme und das Anagramm. Wir wollen ihre Unterscheidungsmerkmale kennen lernen.

1) Die Scharade (Silbenrätsel) ist ein Rätsel, in welchem die einzelnen Silben des zu enträtselnden Namens als für sich bestehende Wörter umschrieben werden. Es wimmelt von derlei Arbeiten, aber höchst wenige erfreuen sich einer poetischen Weihe; die meisten sind nur Spiele des Witzes, viele dieses nicht einmal. Manches Gelungene der Art liefert Theodor Hell in seinen Agrionien. Beispiel einer Scharade:

Scharade

Kennst du das Reich, ein grüner Teppich breitet
Sich durch die unermessne Ebne aus;
Doch grünt kein Baum und keine Herde weidet,
In seinem Innern wohnt ein finstrer Graus; –

Was nur die Erde trägt, was ihr entsprossen,
Von seinem großen Ring ist es umschlossen.
Die Erste nennt's und baut sich hohe Säulen,
Wenn Aufruhr wild in seinen Grenzen haust;

Weh denen, die vertrauend in ihm weilen,
Wenn's in der Zweiten zornig geifernd braust.
Im Ganzen seh'n wir oft ein Freudenfeuer;
Und der Entzückung schönste Himmelsfeier,

Was lief die Brust mit heißem Sehnen füllt;
Des trunk'nen Ideales Lichtgebild,
Was sich die Welt zum Höchsten hat erkoren,
Das ward aus seiner Nichtigkeit geboren. –

TH. Sommer.

2) Der Logogriph (Buchstabenrätsel) ist ein Rätsel, wobei durch Wegnahme, Hinzufügung oder Versetzung eines Buchstabens neue zu enträtselnde Begriffe gebildet werden, durch deren Auffindung der erste Name leichter gefunden wird. Diese Art entfernt sich gemeiniglich noch mehr von der poetischen Darstellung und ist ein bloßes Werk des Verstandes. Zum Beispiel:

Logogriph

Sechsmal ändre ich,
Vier Zeilen bilden mich.
Erstens: zentnerschwer;
Zweitens: auf dem Meer;
Drittens: wie ein Band;
Viertens: ruhverwandt;
Fünftens: gern gesehn;
Wirst du mir den Kopf abdreht,
Kannst du mich im Walde sehn.

K. v. Tischer.

2) Der Homonyme (Tonrätsel?) ist ein Rätsel, wobei das enträtselnde Wort zwei oder mehrere Begriffe bezeichnet, deren Benennung manchmal dadurch unterschieden wird, dass man den Ton bald auf die eine bald auf die andere Silbe legt, wie bei »modern«. Ein Beispiel dieser Rätselart ist

Homonym

Wollt ihr euch im Raten üben,
Geb ich euch ein Wörtchen hin
Aber dreifach ist sein Sinn.
Mochte wohl das Herz betrüben,
Das mich liebte treu und warm,
Kehrt' ich aus der Feinde Schwarm,
Wie es ziemt dem edlen Ritter,
Zu des Söllers trautem Gitter
Aus dem Einen nicht zurück.

Raubte grausam das Geschick
Mir der heißgeliebte Blick
Wünschte ich das Andre mir
Dass mich's trüge schnell zu ihr
Denn es segelt, wie der wind,
Selbst durch öde Sandeswüsten
Unaufhaltsam und geschwind.

Wenn nun eine Augen grüßten
Das geliebte holde Kind,
Reichte ich das Letzte ihr
Und ich weiß, sie dankte mir;
Und erklärt' ich ihr den Sinn,
Nähm' sie's wohl errötend hin.

F. G. v. R.

4) Das Anagramm (Worträtsel) ist ein Rätsel, welches durch Versetzung der Buchstaben eines Wortes auf solche Weise entsteht, dass durch diese Versetzung eine ganz andere Bedeutung erscheinet. Gewöhnlich nennt man das Rätsel, wo das Wort gerade und dann rückwärts gelesen einen verschiedenen Sinn gibt, Anagramm. 1) Zum Beispiel:

Anagramm

Drei Silben – o geliebte Wohnung!
Oft in der Fremde dacht' ich dein,
Und wünschte nichts mir zur Belohnung
Als umgekehrt die drei zu sein.
Dass man das Wort noch mehr muss lieben,
Hat Iffland und ein Freiherr es geschrieben
Hat Iffland drin der deutschen Weit,
Zwei wackre Deutsche dargestellt.

F. Kind

Anmerkungen und Fußnoten

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1) Wahrscheinlich ein Druckfehler, statt Anagramm sollte es Palindrom heißen. Mayer selbst definiert das Anagramm zunächst als »beliebige Buchstabenversetzung« und geht dann auf eine spezielle Form dieser (eben das Palindrom) ein.