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Rätselgedichte, Rätselreime

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Rätsel (aenigma)

aus dem »Deutsches Wörterbuch«

von Jacob und Wilhelm Grimm
16 Bände in 32 Teilbänden
Leipzig, 1854-1961

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1) als ableitungen von raten, ahd. râtan, und in dem allgemeinen sinne eines gegenstandes für sorge, nachdenken und überlegung, daher auch conjectura, problema, parabola, propositio glossiert, begegnen im ahd. mehrere wörter: am häufigsten in alemannischen, bairischen und hochfränkischen quellen das fem. râtissa, râtussa, neben welchem ein nur bairisches und alemannisches râtisca hergeht, fortgesetzt später mhd. als râtische, rætische, rêtische, rætsche, und mit verderbnis bis in das nhd. als räters, rätersch, räterisch (vgl. sp. 182); sodann die weniger bezeugten râtunga und râtnussa, die ebenfalls später noch fortleben (vergl. ratnis sp. 188 und ratung), die untergegangenen

[Bd. 14, Sp. 195]

râtiscunga, râtinisca und râtnissida, und endlich, nur einmal bezeugt und mitteldeutschen gepräges, das neutr. râtisli: ze râdislen, ad propositionem Graff 2, 469, welche letztere form ihre rechte heimat im niederdeutschen sprachgebiete hat: alts. râdisli (per) aenigmata, râdislon Haupts zeitschr. 15, 520, 152; mnd. mit umsetzung radelse, redelse, redelschen, redelszen Dief. 202c; ags. rædels (engl. nachher riddle); das mnl. schlieszt sich mit raedsel, geraedsel aenigma, gryphus, quaestio perplexa, nodosa, intricata, scrupulus, scrupus, conjectura Kilian, reedsel, disputierlick rede Dief. 461c, rætsele mathesis fundgr. 1, 387a der altmittel- und altniederdeutschen form an. im mhd. dringt diese erst spät und allmählich ein, unter mancherlei kleinen veränderungen der wortgestalt, die davon zeugnis geben, dasz man sie nicht als heimisch empfand und daher daran modelte: enigma ratsal, ratczal, retsel, reetsel, reetzell, retzel l. retsche Dief. 202c; mathesis ratsal, rotsal, reetsel l. reetnis, retsele, rätsele 351b; problema ratsal, rotsal, reetsel, retsel, retzel, redsel 461c; enigma rætsel nov. gloss. 150b; aber erst in und nach dem 16. jahrh. ist die bezeichnung, offenbar wie so oft nach dem sprachgebrauche Luthers, in der schriftsprache allgemein geworden und hat andere (auch zusammensetzungen wie ratfrage sp. 183) aussterben lassen. nachklang der früheren bunten formen im 16. jh.:

eins mals ein bawr ein radtszall gab.
B. Waldis Esop 2, 12, 55;

der apt (wiewol ers thet nit gern)
doch must zu gfallen seinem herrn
annemen die bstimpten radtzol (die der herr ihm aufgab),
welch jm nit bhagten allzuwol. 3, 92, 63;
Luthers schreibung ist retzel mit verkürztem stammvocal (vgl. unten 2, a), welche als rätzel lange die allgemeine wird: rätzel aenigma Schottel 1382; das rätzel, aenigma, griphus Stieler 1518, und zum theil noch bis ende des 18. jahrh. dauert: das ewige räzel. Schiller kab. u. liebe 5, 7;

o, lebensreiz — welch rätzel bist du mir!
Gotter 1, 319;
unsere heutige schreibung räthsel, rätsel verdankt jüngerer gelehrter erwägung ihre entstehung und langsame ausbreitung, Steinbach 2, 221 und Frisch 2, 90a fordern sie (Steinbachs quelle Hederich 1729 sp. 1814 schreibt noch rätzel), indem sie den zusammenhang mit raten betonen; sie galt schon vor ihrer zeit vereinzelt bei schriftstellern des 17. jahrh., zugleich mit auffallender änderung des geschlechts in das masculine und selbst feminine: der rähtsel oder, wie etliche sagen die rätzsel ist eine tunkle frage oder aufgabe derer deutung errahten werden soll, daher es auch von dem stammwort raht und der nachsylben el den namen hat. (Harsdörfer) Nathan und Jotham (1650) 5, zugabe Aa 2a;

wer disen rähtsel weis.
Butschky Patm. 267;
auch Stieler 1845 gibt rätselaufschlieszer aenigmata solvens gegen seine sonstige schreibung.
2) rätsel und die vorläufer und vertreter des wortes im ahd. und mhd. haben einen engeren und einen weiteren sinn: jenen, indem sie sich auf ein geistesspiel beziehen, an welchem die freude in unserem volke uralt ist; diesen, indem sie den begriff auf fürsorgliches nachdenken über alles das ausdehnen, was in unserem seelen- und geistesleben zur klarheit zu kommen strebt, daher auch ags. rædels durch conjectura, opinatio, estimatio, interpretatio erklärt wird (Wright-Wülcker voc. 209, 5), und die ahd., von den subst. râtissa und râtisca abgeleiteten verben conjicere, conjectare, arbitrari, fingere, componere (vergl. in der heutigen volkssprache des Elsasses er macht schêni rätsel, schöne gedichte nach A. Stöbers mittheilung), und selbst somniare bedeuten (Graff 2, 468. 469), letzteres wegen der voraussagenden kraft der traumgesichte. ein solcher doppelter sinn hat sich auch im nhd. ergeben.
a) rätsel, aenigma: ein leichtes, schweres, witziges rätsel; rätsel zum kopfzerbrechen; sie möchten an statt ihrer zotten und unzüchtigen rätzel etliche gebete sprechen. Chr. Weise erzn. 159 Braune; ein sehr artig räthsel, perlepidum aenigma. Steinbach 2, 222; rätsel aufgeben, vorlegen, sagen, raten, erraten, treffen, auflösen, aufschlieszen: Simson aber sprach zu jnen, ich wil euch ein retzel aufgeben, wenn jr mir das errattet und trefft, diese sieben tage der hochzeit, so wil ich euch dreiszig hemde geben. richt. 14, 12; und sie kundten in dreien tagen das retzel nicht erratten. 14; uberrede deinen man, das er uns sage das retzel (d. h. die auflösung desselben). 15; wenn jr nicht hettet mit meinem kalb gepflüget, jr hettet mein retzel nicht troffen. 18; und da das gerücht Salomo von dem namen des herrn kam fur die königin von Reicharabien, kam sie jn zu versuchen mit retzelen. 1 kön. 10, 1;

[Bd. 14, Sp. 196]

du menschenkind, lege dem hause Israel ein retzel fur. Hes. 17, 2; sie (die weisheit) verstehet sich auf verdeckte wort, und weis die retzel aufzulösen. weish. Sal. 8, 8; das räthsel verstehen, aenigma intelligere, das räthsel unaufgelöst lassen, aenigma inenarratum relinquere. Steinbach 2, 222; Steinhausen, der spaszmacher, begann sein amt, indem er ... das räthsel aufgab: wann der hase über die meisten löcher laufe? Immermann Münchh. 3, 54;

zu hast ein retzel aufgebn than
meim volk, das zu erraten frei.
mein herzlieb sag mir was es sei (Delila zu Simson).
H. Sachs 3, 1, 50c;

ir jüngling heut ist der letzt tag
zu schlieszen auf meins retzels frag.
fält ir desz retzels hintn oder vorn,
ir habt die feyerkleider verlorn. 51a;

Sphinx muste doch einmal mit bluhte gehn zu bette,
weil man ihr rätzel traf.
P. Fleming 49;
rätsel werden auch verschränkt, geknüpft (vgl. dazu knoten II, 14, a, α, th. 5, 1504 und unten rätselknoten, rätselschlinge):

so legt der dichter ein räthsel,
künstlich mit worten verschränkt, oft der versammlung ins ohr.
jeden freuet die seltne, der zierlichen bilder verknüpfung.
aber noch fehlet das wort, das die bedeutung verwahrt.
Göthe 1, 296,
vgl. auch nachher unter b.
b) in weiterem sinne ist rätsel alles, was dem geiste dunkel erscheint und ihn zum nachdenken und zum streben darüber klar zu werden, auffordert; als wort der neueren gehobenen sprache: ungeachtet aller aufschlüsse, die er durch die Kallippen, Mamilien und Diokleen über das grosze räthsel des weiblichen herzens erhalten zu haben glaubte. Wieland 28, 186; kommst du auf meine fragen die räthsel der ewigkeit zu entfalten? Schiller räuber 4, 5; ihr steht bestürzt, gute leute, erwartet angstvoll wie sich das räthsel entwickeln wird? kab. u. liebe 4, 9; das räthsel meiner neigungen und begierden. Herder zur phil. 3, 172; nur gründe musz eine solche wissenschaft vorlegen, keine orakelsprüche und räthsel. 8, 71; die unauflöslichen räthsel der miszverständnisse, denen oft nur ein einsilbiges wort zur entwicklung fehlt. Göthe 18, 128; ich musz ihnen von ihm sprechen, eh sie ihn gesehn haben; lieber hätt ich es nachher gethan, weil die persönliche gegenwart gar manches räthsel aufschlieszt. 23, 189; sie .. suchten scharfsinnig hinter das räthsel zu kommen, das ich unter der schusterherberge zu verhüllen mutwillig genug sei. 25, 174; an dem hügel rückwärts entsteht ein seltsames rufen .. doch gerade in dem augenblick als der bischof mit dem hochehrwürdigen zug die höhe erreicht, wird das räthsel gelöst. 43, 267; wie er sich das räthsel seiner tage zurechtlegen und ausbilden wollte. 48, 30; dasz manche wissenschaftliche räthsel nur durch eine ethische auflösung begreiflich werden können. 54, 97;

was ist die schrift? was lehret sie? (fragt der freigeist).
ein traurig leben, reich an müh,
und räzel, die wir aufzuschlieszen
erst der vernunft entsagen müssen.
Gellert 1, 170;

ich fiel dem könige zu füszen,
und bat ihn, mir ein räthsel aufzuschlieszen,
das mir die ruhe stahl.
Wieland 17, 136 (Idris 3, 7);

jetzt im räthsel, jetzt im dunkeln spiegel:
einst erscheinet uns der wahrheit siegel
wirklich: angesicht zu angesicht.
Herder z. litt. 4, 154;

Faust. dort strömt die menge zu dem bösen;
da musz sich manches räthsel lösen.
Meph. doch manches räthsel knüpft sich auch.
Göthe 12, 211;

ein räthsel tritt das heilige ins leben,
ein räthsel wohnt es in des busens gründen.
Arndt ged. 146;

frage nicht wie sich dies räthsel wird entfalten.
Rückert 329;

o löst mir das räthsel des lebens,
das qualvoll uralte räthsel,
worüber schon manche häupter gegrübelt.
H. Heine 15, 253;

ein räthsel waltet hier,
das ich zu rathen nimmer mich vermesse.
das aber weisz ich: lösen wird sichs einst.
Geibel werke 6, 25.
in rätseln reden, sprechen, rätsel sprechen: steh auf, mein sohn! besinne dich, dasz du mir räthsel sprichst! Schiller kabale u. liebe 4, 5;

um meiner ruhe willen, marquis,
erklären sie sich deutlicher — nicht in
so fürchterlichen räthseln reden sie
mit mir. don Carlos 4, 21;

was geister leise geistern nur erzählen,
das spricht in zarten räthseln der gesang.
Arndt ged. 192;

[Bd. 14, Sp. 197]

auch, mit bezug auf oben a, rätsel spielen:

was ist das? der sohn,
der unterthan will rätzel mit mir spielen?
Schiller hist.-krit. ausg. 51, 78 (dom Carl. 2, 3);
etwas ist ein rätsel (vgl. dazu rätselhaft): was er meint, ist mir ein rätsel; das betragen des grafen seit jenem abenteuer war ihr ein völliges räthsel. Göthe 18, 317; wie dieser hierher gekommen, und wer er sei, war Wilhelmen völlig ein räthsel. 20, 124; das wenige, was sie sonst noch hinzugefügt, ist gleichfalls für mich kein räthsel. 17, 18;

ich .. will von euch an eine that
nicht fort und fort erinnert sein, bei der
ich nichts gedacht; die, wenn ich drüber denke,
zum räthsel von mir selbst mir wird.
Lessing 2, 225;
etwas bleibt ein rätsel: von jener erstaunenswürdigen entsagung der krone (seitens Karls V) bleibt der wahre bewegungsgrund noch immer ein räthsel. Schiller hist.-krit. ausg. 4, 93; denkmale (in Britannien), die wie die pyramiden wahrscheinlich noch jahrtausende überdauern und vielleicht immer ein räthsel bleiben werden. Herder z. phil. 7, 11.
c) auch personen sind ein rätsel: sie werden mir zum räthsel, mein vater. Schiller kabale u. liebe 1, 7;

sich selber ein räthsel,
wünschet, in erde gehüllet, der geist.
Stolberg 2, 138;

doch der mensch,
der ganz besonnen solche that erwählt,
er ist ein räthsel.doch — und bin ich nicht
mir auch ein räthsel, dasz ich noch an dir
mit solcher neigung hänge?
Göthe 9, 282;

ich bin dir wohl ein räthsel?
H. v. Kleist familie Schroffenstein 2, 3;
Wilhelm sah das wunderbare kind auf der strasze bei andern spielenden kindern stehen, machte Philinen darauf aufmerksam, die sogleich, nach ihrer lebhaften art, dem kinde rief und winkte .. hier ist das räthsel, rief sie, als sie das kind zur thüre herein zog. 18, 153.
3) rätsel, räzel, von einem menschen mit zusammengewachsenen augenbrauen: seiner ganzen physiognomie gab es einen eigenen ausdruck, dasz er ein räzel war, d. h. dasz seine augenbrauen über der nase zusammenstieszen. Göthe 25, 228; so fand ichs lustig, seine dichteren augenbraunen mit einem gebrannten korkstöpfel mäszig nachzuahmen und sie in der mitte näher zusammenzuziehen, um mich bei meinem räthselhaften vornehmen auch äuszerlich zum räthsel zu bilden. 353. ob diese bedeutung mit der vorigen zusammenhängt, erhellt nicht. in der Oberpfalz sind rätsel hausgeister, kobolde, die rätsellöcher bei Roding unterirdische gänge, wo die rätseln aus- und eingingen und hausarbeiten verrichteten, vgl. Schm. 2, 194 Fromm.

Quelle

http://woerterbuchnetz.de/DWB/?bookref=14,194,69

http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&lemid=GR01008