Scharade (1+1+2 Silben)
Auf ihrem Berg' erscheint die Oreade,
Beleuchtet von des Morgens erstem Strahl,
Indessen noch im Tau und Nebelbade
Verschleiert ruht das nördlichkalte Tal;
Da wogt's heran in prächtiger Parade
Und aus den Thoren flutet's ohne Zahl:
Es eilt die Göttin mit Gesang zu grüßen,
Was jetzt vollführet wird zu ihren Füßen:
»Wie Ihr, die erste Silbe recht zu wahren,
Gar tief hinabsteigt in der Erde Schoß;
So dringt, sie zu erforschen, zu erfahren,
Stets, überall, nicht hier und heute bloß
In das Gebiet des Guten, Schönen, Wahren!
Denn ewig preislich ist's und göttlichgroß,
Die erste Silb' in Allem aufzufinden
Und den Erfund auch furchtlos zu verkünden.
Doch wohnt und wurzelt Kraft und Geist und Leben
Nicht bei dem Maulwurf in der Tief' allein;
Sie kann kein Haus allein, kein Hörsaal geben,
Kein Heft und kein bestäubter Bücherschrein.
Empor muss der Erkenntnisbaum sich heben,
Soll seine Krone, wie sein Stamm gedeih'n;
Nur in der freien Luft, im Sonnenlichte
Entfalten Blüten sich und reifen Früchte.
Für alle fein're Bildung unempfänglich
Erscheint die zweite Silbe jedem Blick;
Doch schafft die Kunst aus ihr ein unvergänglich,
Von aller Welt bestauntes Meisterstück:
Noch lebt Apoll, der hehr und überschwänglich
Im Belveder' entzückt des Kenners Blick;
Er muss zum Zeugnis allen Bildnern leben,
Was Fleiß vermag, Genie und redlich Streben.
Gab doch der zweiten Silbe Hauch und Regung,
Ja, Leben selbst vormals Pygmalion,
Und einst verlieh Amphion ihr Bewegung
Durch seiner Leier zaubervollen Ton;
So sollt auch Ihr durch kräftige Erregung
Die Stumpfheit wecken, und der Rohheit Sohn
Entwildern, und veredeln aller Willen,
Und jedes geistige Bedürfnis stillen.
So heb' aus dem das Werk sich bald gedeihlich,
Was hier vollbringt das letzte Silbenpaar;
Nur Irren sei, nicht Stillesteh'n verzeihlich,
Rastlos erhebt sich sonnenan der Aar!
Gott, Freiheit, Vaterland und König heilig
Sei dieser Tempel jetzt und immerdar,
In ihm soll nur dem Guten, Wahren, Schönen
Kunst, Wissenschaft und jede Forschung frönen.
So singt die Oread' auf ihrem Berge
Und sieht auf ihn wehmütig lächelnd hin,
Jetzt auf den Garten dort, vormals voll Särge,
Wo Palmen nun, statt der Zypressen, blüh'n;
Sieht unter sich die Menschen, nur wie Zwerge,
Die sich so schwer zu ihr empor bemüh'n,
Und ihres Berges mild besonnten Rücken
Statt mit Palästen, nur mit Veilchen schmücken.
Grund + Stein + Legung = Grundsteinlegung
Anmerkungen
Grundsteinlegung der neuen Aula in Tübingen
Die Oreaden
(Bergnymphen) sind Nymphen in der griechischen Mythologie. Sie leben in
Grotten, Wäldern und Bergen. Eine der bekanntesten Oreaden ist Echo. Die
Göttin Hera beraubte sie der Sprache und ließ ihr lediglich die Fähigkeit, die
letzten an sie gerichteten Wörter zu wiederholen.
Verweise
Scharaden