Logo
Rätselgedichte, Rätselreime

≡ ► ◄ ▲

Rätselgedicht Nr. 11248

von Johann Caspar Lavater

Rätsel

Vernimm, o Freudeschar, du Chor der Weisheitsreichen!
Ein Rätsel wundergroß und ohne seines gleichen.
Spannt alle Segel auf, das Wunderding zu fassen!
Ich will dem der's versteht, den Ruhm der Weisheit lassen.
Schon sinnt Ihr alle nach; was ist denn wohl die Sache?
Und ist sie's wert, dass man solch einen Eingang mache?
Geduld die Weisen ziemt! das Ende wird Euch lehren:
Die Sache war wohl wert, dass wir so hoch sie ehren.
Besagte Sache nun, hat viele Qualitäten:
Sonst taugte, wie bekannt, sie zu dem Rätsel nicht.
Ihr kennt sie – doch gehört sie zu den Raritäten
Von denen weit und breit, die liebe Fama spricht.
Ich dürfte nur ein Wort, mit dem sie sich reimt, sagen;
Ihr würdet weiter nicht nach dem Geheimnis fragen,
Das wunderbare Ding, des Namen wir jetzt suchen
Hat keine Ähnlichkeit mit Felsen oder Buchen –
Ist glatt und sanft wie Milch, doch braucht man's nicht zu Kuchen.
Es ist sehr tief und hoch, nachdem man es betrachtet,
Ist leicht, ist schwer, ist gut, geliebet und verachtet;
Verborgen jedermann und allen offenbar,
Ist immer was es will, und niemals was es war.
Es ist, damit wir stets der Sache näher kommen,
Dem Bösen oft so lieb, als wie dem reinsten Frommen.
Die Weisen rühmen es; es preisen's selbst die Toren.
Die Augen können's sehn; es hören's auch die Ohren,
Und mancher hat dadurch gewonnen und verloren.
Das rätselhafte Ding, von dem wir jetzt sprechen,
Gehört zu'n Poltrons nicht, noch minder zu den Frechen.
Ist oft gebrechenvoll, wenn's frei ist von Gebrechen.
Es ist ein sanftes Ding, doch kann's uns Mores lehren.
Man fürchtet's oft und hasst's und kann sich nicht erwehren,
Auch dann, wenn man es flieht, doch seinen Ruhm zu mehren.
Wem's recht wohl will, den lässt's zu sich nicht wiederkehren.
Es ist ein reines Eins und eine große Menge,
Viel schmäler als ich bin, und ungeheu'r von Länge,
Und Mutterseel allein, stets mitten im Gedränge,
Ist simpel wie nur was, und macht doch viel Gepränge.
Wo ist der Dichter? Wo, der würdig es besänge?
Besagtes Wunderding hat wunderbare Kräfte;
Es lehret Müßiggang und stärkt doch zum Geschäfte:
Es ist sich immer gleich, und macht doch seltne Launen;
Von ihm kömmt Furcht, und Angst, jetzt Hoffnung und dann Staunen.
Es nimmt und gibt Verstand, macht wohl jetzt und jetzt wehe,
Führt jetzt zur Tiefe hin, treibt wieder in die Höhe.
Es hat nicht Fleisch, nicht Bein, Gefühl nicht, oder Leben,
Und doch, was es nicht hat, kann's dem, der's nicht hat, geben.
Es kennt Politik nicht, und kann doch wohl regieren,
Kann wie ein Prediger, auch Ehen kopulieren,
Und manchen hin und her, oft schnell, oft langsam führen;
In mancher Menschenkunst, die Menschen exerzieren.
Es hat nichts menschliches, nichts tierisches, und ist
Oft mehr den Menschen gut, als mancher Mensch und Christ.
Ihr denkt, wo ich nicht irre; es ist nichts als das Gold!
Seid Eurer Sach' gewiss und dem Gedanken hold.
Denkt, alles vorige kann leicht darauf sich passen.
Wir wollen was gesagt euch wieder lesen lassen.
Gold ist ein Wunderding von wunderbaren Kräften;
Es lehret Müßiggang und treibt auch zu Geschäften;
Es ist sich immer gleich und macht doch seltne Launen.
Von Gold kommt Furcht und Angst, jetzt Hoffnung und dann Staunen.
Es nimmt und gibt Verstand, macht wohl jetzt und jetzt wehe,
Führt jetzt zur Tiefe hin, dann wieder in die Höhe.
Gold hat nicht Fleisch und Bein, Gefühl nicht oder Leben,
Und doch was es nicht hat, kann's dem, der's nicht hat, geben.
Gold kennt Politik nicht und kann doch wohl regieren,
Gold kann, wie Priester auch, viel Ehen kopulieren,
Und manchen hin und her, bald schnell, bald langsam führen;
In mancher Menschen Kunst die Menschen exerzieren –
Gold hat nichts menschliches, nicht tierisches und ist
Oft mehr den Menschen gut, als mancher Mensch und Christ –
Ihr klatscht und seid gewiss – Ihr habt's aufs Haar getroffen.
Ich aber sage: Nein – Lasst mir ein Ohr noch offen!
So darf ich sogleich Euch zu überzeugen hoffen,
Dass Ihr mein Wunderding jetzt noch nicht habt erraten;
Vernehmt Ihr mehrer's noch von seinen Eigenschaften –
Und urteilt selber dann; ob die im Golde haften?
Noch nie benanntes Ding ist rein, als wie Kristallen;
Geschmeidig ist es nicht, noch schmelzbar gleich Metallen.
Mann kann's zum Draht nicht ziehn und nicht zu Blättchen schlagen;
Man pflegt's am Halse nicht, nicht an der Uhr zu tragen.
Es pflegt nicht, wie das Gold, des Menschen Herz zu plagen,
Man setzt's auf Karten nicht, sein Glück damit zu wagen:
Doch spielt man auch damit – allein auf andre Arten,
Als auf dem Billard mit Würfeln und mit Karten.
Ich sage, denkt ihr nun von diesem Dinge viel,
Allein wenn Ihr's erlaubt, wir sind noch nicht am Ziel.
O sammelt noch einmal zum raten die Gedanken,
Und lasst beim matten Reim, noch die Geduld nicht wanken!
Mein Reim als wie die Sach', hat endlich seine Schranken,
Doch sagt ihr: nun genug! – So wollen wir nicht zanken,
Und auseinander gehn, und freundlich uns bedanken –
Und wollt' ihr dies noch nicht, so fahr ich weiter fort,
Und sage von dem Ding Euch, Freunde, noch ein Wort.
Es eilet weiter stets, und bleibt an einem Ort.
Es ist stets nagelneu und doch erstaunlich alt,
Am einen Ende warm, am andern Ende kalt;
Hat keine Form für sich und jegliche Gestalt.
Eh' unser einer war, war's lang schon hoch bewundert;
Sein jüngstes Alter ist ein völliges Jahrhundert.
Wie lang's noch währen wird, dass man's wird hoch verehren,
Muss, wie die Zeitung sagt, die Zeit und Zukunft lehren.
Es kleidet tausendfach sein höchst einfaches Wesen,
Mit Stein jetzt, jetzt mit Glas, mit Fleisch, jetzt auch mit Holz
Vielleicht in Silber auch, doch hab ich nie gelesen:
Es sei voll Eitelkeit, voll Hochmut oder Stolz!
So viel man von ihm sprach, man von ihm hat geschrieben;
Ihm ist Geschrieb und Wort ganz unbekannt geblieben.
Es kümmert sich um nichts, wie man darum sich kümmre;
Ob man mit Gold es kleid'; ob man sein Kleid ihm zimmre?
Geduldiger ist nichts von allen Menschenorden
Genossen und gesucht und mehr verschwendet worden.
Fragt Ihr mich, ist es groß? Ist's mittelmäßig? Klein?
So wird auf jede Frag' ein Ja die Antwort sein.
Es könnte manches Land leicht mit sich selbst bedecken;
Doch kann man's, wenn man will, auch in die Tasche stecken.
Bald kleidet's unsern Fuß, bald deckt es Brust und Rücken,
Doch kann man ohne Müh, das was es deckt, erblicken.
Kurz unser Wunderding ist nicht genug zu preisen;
Man mess' es, wie man will, man zähl's auf tausend Weisen;
Man braucht zum Messen nicht viel Flächen oder Tale;
Nicht Zirkel, Blei und Schnur, und keine Lineale.
Ich weiß nicht, ob wir schon den Umstand remarkiert,
Dass man's Gefangnen gleich, in fremde Länder führt.
Und weil's für Junge taugt und mehr noch für die Alten,
Dass es oft wohlverwahrt muss Quarantäne halten;
Und dass dem Ding zu lieb sich manche Dinge spalten.
Wie manches wäre noch in einen Reim zu zwingen,
Würd' alles, was ich weiß, ich auf die Bahn noch bringen.
Nur eins von tausenden ist doch nicht zu verschweigen:
Der Sänger ist ihm hold! Es lehret Bettler geigen!
Doch Dilettanten auch und hohe Virtuosen –
Es ziehet Nelken an, und blätterreiche Rosen.
So ziehet kein Magnet den zarten Staub der Feilen,
Wie unserm Dinge stets viel Ding entgegen eilen!
Wo fang' ich wieder an, und wo, wo will ich enden?
Es lockt dann, wie gesagt, zu sich verschiedene Dinge,
Viel Seiden, Wollen, Tuch, Petschier- und Silberringe,
Magneten, Nadeln, Glas und Souvenir und Fächer,
Der Taschenspiegel viel und Spiegel in Gemächer;
Lünetten, Perspektiv, Halstücher, Strümpfe, Beutel,
Was König Salomo hieß Kinderspiel und eitel,
Kaffee und Schokolad', Weinbeeren, Mandelkernen,
Tobak und Dosen viel, Raketen und Laternen.
Auch Sonn'- und Regenschirm und Kugeln zum Rasieren,
Sackmeister und Pistol' und Schlangen zum Vexieren.
O wunderbares Eins – was hab ich unternommen,
Werd ich mit deinem Ruhm wohl je zum Ende kommen?
Du schaffst Poeten gar! Gibst Dichterinnen Feuer;
Bist wohlfeil wie die Luft und mehr als Silber teuer.
Kein Mikroskopium kann, was du bist, ergründen,
Doch kann der Blinde leicht den Wert von dir empfinden.
Es braucht um dich zu sehn, das Kurzaug keine Brillen,
Du wirkest mehr auf mich als Englisch Salz und Pillen!
Dir ist Rhabarber nicht, und China zu vergleichen!
Du bist des Armen Trost, die Zuflucht vieler Reichen!
Du hast nicht Mund und Zahn und doch verzehrst du immer,
Gehst, wenn wir von dir gehn, mit uns auf unser Zimmer.
Dich sucht der Britte, dich der Deutsche, der Franzos!
Die Damen brauchen dich, nicht minder die Chapeaux!
Du bist des Fürsten Schatz, Trost armer Lieferanten,
Dir sind die Grafen hold, dich ehren Domdechanten!
Du bist der Herren Herr, ein Diener du der Diener!
Dich suchen General, und arme Kapuziner.
Wir ehren alle dich, du bist nicht weit von hinnen.
Die Nonnen nahn sich dir, und Bürgermeisterinnen!
Die eine machst du froh und zeigst der andern Güte;
Du breitest Freude aus auf jegliches Gemüte!
Du herrschest über uns und bist uns untertan.
O Weiser, der von dir den Namen finden kann!

Lösung anzeigen

Bad Pfäfers bzw. Pfefferseer Bad

Anmerkungen

kopulieren (veraltet) = trauen (von lat. kopulare = eng verbinden)

Remarkieren (frz.) = bemerken, anmerken; remarkabel = bemerkenswert.

Petschierring = Petschaftring

Chapeaux = Hut

Domdechant = Domdekan

Lünette (frz.) = »kleiner Mond«. Die Lünette ist die Umrandung des Ziffernblattes der Uhr. Es gibt abhängig vom Uhrentyp verschiedenste Ausführungen. Die Lünette gehört zu dem wesentlichen Bestandteil des Uhrengehäuses und dominiert das Gesamtbild.

Quelle

Im Julius 1784 zu Pfefers gemacht, und zum Besten der Armen dem Druck überlassen; von Herrn Pfarrer Joh. Caspar Lavater

Verweise

Worträtsel, Lavater