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Rätselgedichte, Rätselreime

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Rätselgedicht Nr. 10271

von Christoph Martin Wieland

Anagrammoid

Neun Elemente, die (nach Epikurs Gesetzen)
zwar körperlich, doch nicht mehr teilbar sind,
sind meines Wesens Stoff: und wenn ihr am Versetzen
und Raten euren Sinn zu wetzen,
bei edlem Müßiggang vielleicht Belieben findt,
so sucht in mir: –
(1) den Vogel, dem an Haaren
die Schönen gerne ähnlich sind;
(2) ein Instrument, das gern sich mit Gesang verbindt,
die Abendlust von manchem schönen Kind,
als Laute noch und Zither Mode waren;
(3) des hohen Alters dritten Fuß;
(4) womit die Korydons im Schatten
sich ergötzen;
(5) und was den Jupitern, die sich
mit Nymphen letzen,
im stillen Busch zum Sofa dienen muss;
(6) was Adler nur auf hohe Felsen setzen;
(7) was ohne größte Not kein Rheinbewohner trinkt;
(8) womit die Muselmanns sich Bart und Glatze salben;
(9) den Mann, der Amts und Standes halben nur im Kalendertitel hinkt;
(10) den Sitz, worauf ein Schach der Ruh' im Diwan pfleget;
(11) was man aus dicken Tannen säget;
(12) und was das tapfre Volk, das für drei Kreuzer dient,
mit allem Ungemach des Heldentums versühnt.
(13)
Dann ratet noch, wie Bauern meistens reiten;
(14) ein Stück des Priesterschmucks,
(15) des Himmels Zier bei Nacht;
(16) den kühlen Trunk, den Türken gerne schlürfen;
(17) was manchen Graeculus zum
Weisen einst gemacht
und Russlands Popen sich nicht kappen lassen dürfen;
(18) was niemand je bei kaltem Blut,
im Fieber oft, im Jauchzen meistens, tut!
(19) Was Tugendfreunde mehr wie Molch und Natter fliehen;
(20) was Esel tragen, Pferde ziehen;
(21) was ohne Zähne Eisen frisst;
(22) und was der armen Hammelsrippen
zu Wien alltäglich Schicksal ist;
(23) ein Opfer von bezahlten Lippen,
das mancher Rabe schon mit seinem Fraß gebüßt;
(24) womit man insgemein erzwungnes Lob beschließt;
(25) ein Zeug zu leichten Sommerkitteln;
(26) und einen von den Sippschaftstiteln,
der manchen Hausroman schon überschleiert hat;
(27) sucht noch den Namen auf von einer schönen Stadt
im Schweizerland, die stets viel manufakturierte;
(28) und eines Herrn, der einst zu Syrakus regierte;
(29) und den gemeinsamen, den eine Zauberin
in Tausendeiner Nacht getragen;
(30) und zu Lyon die schöne Seilerin,
in deren Stricken einst viel tapfre Herzen lagen;
(31) dann ratet, wie der Patriarche hieß, der sich in seinen alten Tagen
von seinen Töchtern noch zum Narren machen ließ
– und nun genug! –
Ich meines Orts, ich finde,
mir wird bei diesem Spaß ein wenig gähnerlich.
Nur eins noch, eh' ich wieder schwinde:
Mein Ganzes ist ein leichtes Spiel der Winde,
und jener Sybarit (32) - Doch still! sonst habt ihr mich!

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Rosenblatt

Anmerkungen

Achtung: Teilweise veraltete Rechtschreibung (mit/ohne stummes H)

1. Rabe; 2. Teorba; 3. Stab; 4. Blasen; 5. Rasen; 6. Nest; 7. Born; 8. Salbe; 9. Bote; 10. T[h]ron; 11. Bo[h]len; 12. rasten; 13. traben; 14. Stole (Stola); 15. Stern; 16. Sorbet; 17. Bart; 18. toben; 19. Laster; 20. Last; 21. Rost; 22. auf dem Rost gebraten zu werden; 23. Lob; 24. aber; 25. Bast; 26. Base; 27. Basel; 28. Belon; 29. Labe; 30. Louise Labe, dite La belle Cordire; 31. Lot; 32. Sybarit beschwerte sich, dass er nicht habe schlafen können, weil ein Rosenblatt auf seiner Matratze gefaltet gelegen sei.

Epikur (* um 341 v. Chr. auf Samos; † 271 oder 270 v. Chr. in Athen) war ein griechischer Philosoph, Begründer des Epikureismus und der epikureischen Schule. Diese im Hellenismus parallel zur Stoa entstandene philosophische Schule (eine hedonistische Lehre)

Die Theorbe (italienisch tiorba) ist ein Musikinstrument und gehört als Schalenhalslaute zur Familie der Lauteninstrumente. Ihr bautechnisches Kennzeichen ist der zweite Wirbelkasten an einem verlängerten Hals.

Stola (Stole) ist ein über einem Kleid o. Ä. getragenes, breites, schalartiges Gebilde, das um Schultern und Arme gelegt wird

Born (veraltet) = Brunnen

Letzen (veraltet) = laben, erquicken

Graeculus (Griechlein) war im alten Rom ein weit verbreitetes Schimpfwort.

Korydon ist in der griechischen Mythologie ein Gigant, Sohn der Gaia und des Tartaros.

Verweise

Anagrammoide