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Rätselgedichte, Rätselreime

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Rätselgedicht Nr. 4476

von Jens Baggesen

Rätsel

Mein Aufenthalt ist nicht allein auf dieser Erde,
Ich wohn' an jedem Ort, wo etwas steht und fällt;
Ich ging hervor zugleich beim ersten Schöpfungswerde,
Mein Dasein ist so alt gerade wie die Welt.

Doch rechne man mich nicht zu was man Dinge nennet
Noch zu dem Geisterreich, noch, gar in keinem Sinn,
Zu irgend einer Art von Wesen, die man kennet,
Wenn auch gestaltet ich, und sinnenfällig bin.

Auch wähne man ja nicht, ich wäre mehr ein Wunder,
Als irgend etwas sonst im Reiche der Natur,
Obgleich zu jeder Zeit, und mehr, als je, jetzunder,
Dergleichen nur gelingt in meiner Riesenspur.

Denn Riese bin ich, und, nächst einem der Titanen,
Weit größter, wenn ich oft Millionen Meilen lang
Und breit, daher einschreit' auf Weltenozeanen,
Furchtbar und schauerlich in meinem stillen Gang.

Doch wenn auch meine Größ' und Macht fast unermesslich,
Kann ich bisweilen doch – ich wett', ihr glaubt es kaum –
Ein winz'ger Zwerg auch sein! Es ist so toll als grässlich,
Wie meine Zeitgewalt napoleont im Raum.

Man hat des Menschen Bild schon oft in mir gefunden;
Man find't noch öfter drin der Pflanzen, und des Viehs;
Denn jegliche Figur kann ich in heitern Stunden
Darstellen; mein Talent ist ähnlich des Genies.

Doch tu' ich mich hervor in mehr als einem Fache:
Darstellen nicht allein – darlegen kann ich auch
Fast jeden Gegenstand, was eben nicht die Sache
Des plastischen Genies, zum mind'sten nicht Gebrauch.

Verwandeln kann ich auch. Was wird nicht umgestaltet
In der Natur Bezirk durch meine Zaubermacht,
Weiß wird ganz schwarz, und warm wird kalt, wo diese waltet,
Das Sehende wird blind, und Mittag selbst wird Nacht.

Der größte Zauberer bin ich gewiss auf Erden,
Gibt's auch auf ihr vielleicht ‘ne größ're Zaubrerin;
Des Himmels Pracht kann nur durch mich erschlossen werden,
Und keine Hölle gibt's, bin ich nicht selbst darin.

So fast allmächtig ist, und reich an Wundergaben,
Mein somnambulisches und mystisches Geschick,
Dass, unbegräblich selbst, ich alles kann begraben,
Und, selber völlig blind, verblenden jeden Blick.

Ich bin, nächst Einem, der weit stärkste der Despoten,
Die unsre Sinnenwelt beherrschen, ob mir gleich
Der eigentliche Druck aufs Sinnlich' ist verboten;
Mein Druck wird um so mehr gefühlt im Geisterreich.

Ich selber bin kein Geist; auch dem Gesetz der Schwere
Nicht untertan; kein Sein, doch auch kein bloßer Schein –
Kein Traumbild, ein Gespenst von etwas, das nicht wäre –
Ich bin notwendig gar bei jedem Wirklichsein.

Ich bin ein wesentlich unwesentliches Wesen:
Ganz seel- und körperlos – und doch unstreitig da –
Nicht wegzufegen mit der Weltaufklärung Besen –
Trotz jedes Luzifers Triumph-Victoria.

Zwar bin ich, Zwilling, an des Zwillingsbruders Seite
Gebunden fest, und nie in meinem Spiele frei,
Doch geht mein Spielraum, trotz der Kette, so ins Weite,
Dass wenig für mein Spiel verloren geht dabei.

Die Metaphysiker zwar stritten lang' und ehrlich:
Wen von uns Brüdern man am füglichsten entbehrt'?
Ihr Narren! wir sind beid' im All ganz unentbehrlich,
Ein jeder gut für sich, obgleich nicht gleich verehrt.

Es ist im All so ganz unmöglich, uns zu trennen,
Als Raum und Zeit, und Ding und Grenz', und Wie und Was –
Geschäh' es aber doch, will ich es wohl bekennen,
Dass ich nur meines Orts verlöre durch den Spaß.

Denn ganz und gar allein in Allem zu regieren,
Davon zu träumen nur, fiel mir noch niemals ein;
Zwar wünscht mein ganzer Hof, ich möchte kaiserieren –
Hofdumm! Es würde nichts, herrscht' ich erst ganz allein.

Lösung anzeigen

(unbekannt)

Anmerkungen

somnambulisch = schlafwandlerisch

Verweise

Worträtsel, Baggesen, Forum