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Rätsel und Puzzles

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Hängebrücken, kreisenden Vögeln gleich

Biographische Rätsel, 01/2000

Ein ernster, würdevoller Mann. Jedes Mal, wenn er seine vom Wind zerzausten Haare zurückstreicht, spitzt aus den Ärmeln seines Gehrockes der Rüschenbesatz des Hemdes hervor. Wie ein Feldherr steht er auf einem Hügel und überblickt seine Baustelle, in der Rechten den Aufsatz auf einen Theodoliten, in der Linken ein Bündel Pläne. Wieder wird an einer Brücke gebaut.

Es ist bereits die Fünfte, die er geplant hat und deren Bau er beaufsichtigen durfte. Und genau wie diese führten die meisten über die Seine. Eigentlich kann er nichts mehr Neues finden an all den Brücken und Fußgängerüberwegen - und doch fasziniert es ihn immer wieder aufs Neue, zu sehen, wie sich schließlich eine Straße über das Wasser schwingt: Jede Brücke ein Triumph der menschlichen Erfindungsgabe und ein Kunststück obendrein. Je eleganter und moderner die Bogen sich spannen, desto wunderbarer. Sein Traum ist es, eines Tages eine Hängebrücke zu bauen, die sich einem kreisenden Vogel gleich über dem Wasser in der Schwebe hält.

Erst mit 39 Jahren veröffentlicht er sein Werk "Memoire sur les ponts suspendus" (Aufsatz über Hängebrücken), in dem er diese Träume in die Sprache eines Ingenieurs fasst. Und tatsächlich ist es schon zwei Jahre später so weit: Sein Entwurf für eine Hängebrücke als Verbindung zwischen der Esplanade des Invalides und den Champs-Elysees in Paris soll verwirklicht werden.

In einem einzigen Bogen von 155 Metern Höhe sollte sie die Seine überspannen. Unter den Politikern der Stadt entbrannte ein heftiger Streit um das kühne Projekt. Konnte man auf ein solch gewagtes Konstrukt Menschen lassen? Unmöglich durfte man riskieren, dass die Brücke eines Tages unter den Flaneuren, den Händlern mit ihren Karren, den Marktfrauen mit ihren Körben auf dem Rücken, die täglich darüber gehen würden, zusammenbrechen könnte. Und war das nicht ein moderner Turmbau zu Babel?

In der Nacht vom 6. auf den 7. September 1826 geschah es dann. Die einen nannten es den verdienten Zorn Gottes, die anderen ein Unglück für den armen Herrn Ingenieur: Eine Hauptwasserleitung der Stadt Paris brach. Wie ein Wildbach strömte das Wasser der Seine plötzlich um die Lager der Brücke, rieb sich wie ein wild gewordenes Tier an den neuen Pfeilern und wühlte sich übermütig in die Erde unter den Fundamenten. Die Gegner rieben sich die Hände: Die Widerlager der Brücke begannen sich zu bewegen - und mit ihnen die öffentliche Meinung. Die Schar der Befürworter schmolz dahin.

Ein Jahr nach Baubeginn wurde das Bauwerk abgerissen, noch bevor es der Öffentlichkeit übergeben worden war. Das war eine herbe Enttäuschung für den Erbauer. Er verfasste noch ein Buch, in dem er seine Ingenieurleistung verteidigte, und widmete sich ab da mehr denn je der Forschung und Lehre. Schon seit Jahren stand er in denselben Schulen, die er selbst besucht hatte, hinter dem Katheter und erklärte den Schülern und Studenten den Maschinenbau und die Physik, die hinter der Ingenieurkunst steckt. Denn auch dies hatte ihn sein ganzes Leben hindurch fasziniert: Wie konnte man die Biegung eines Balkens unter Last, die Kräfteverteilung in einer Brücke oder die Strudel und Strömungen der Seine in mathematische Formeln fassen? Mathematik hat er unter anderem bei Fourier gelernt, der später sein Protege und Freund wurde. Die Praxis dagegen war ihm sozusagen in die Wiege gelegt worden: Nach dem Tod seines Vaters gab ihn die Mutter bei seinem Onkel in Erziehung - und der war Generalinspekteur für Brücken und Straßen. Bei ihm war er auf den Besuch der Schule für Straßen- und Brückenbau vorbereitet worden.

Nach dem Tod seines Onkels veröffentlichte er - damals bereits selbst ein bekannter Ingenieur - über Jahre hinweg dessen Nach las Bücher über den Brücken und Kanalbau, während er zugleich seine eigenen Untersuchungen vorantrieb: Er versuchte sich beispielsweise an einer Formulierung für kinetische Energie und kam dabei dem Erhaltungssatz für mechanische Energie sehr nahe. Außerdem beschrieb er die Biegung von Stahlplatten, von Balken und untersuchte die Reihen seines Freundes Fourier.

Wenn sich jedoch sein Name in heutigen Physikbüchern wieder findet, dann meist aufgrund anderer Arbeiten, die wir in gewissem Sinne dem strudelnden Wasser der Seine verdanken.

Wer war der Brückenbauer und Mitbegründer der Statik?

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