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Rätsel und Puzzles

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Dressiert dazu, Mathematik zu treiben

Biographische Rätsel, 05/1998

»Ich hatte mich auf die bei solchen Anlässen übliche Konversation mit diesem Mädchen eingestellt. Graf Belloni [...] wollte daraus jedoch ein ›öffentliches Ereignis‹ machen. Er wandte sich an das Mädchen mit einer eleganten lateinischen Ansprache, die von jedermann gehört werden konnte, worauf sie ihm flüssig antwortete...«

Besagter Graf Belloni — ein Bekannter des Italienreisenden Charles de Brosses, aus dessen Feder die obigen Zeilen stammen — führte anschließend mit dem dem 21järigen »Wunderkind« eine gelehrte »Disputation«. Die junge Frau war, wie heute vermutet wird, eingeübt: Ihr stolzer Vater, ein Textilienkaufmann, hatte sie mit Privatlehrern zu einem Wunderkind herangezogen. Sie hatte zu den verschiedensten philosophischen und natur wissenschaftlichen Themen ihrer Zeit lateinische Sätze parat, die sie bei passender Gelegenheit fließend vortrug.

Zum Beispiel, um mit jenem Grafen Belloni in feiner Gesellschaft »über die Entstehung der Quellen und die Ursachen der Ebbe und Flut« zu parlieren. Oder um mit dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel über »die Ursache der Planetenbewegung und die Natur der Farben« zu diskutieren. Sogar vor dem ältesten Sohn August des Starken führte das »Wunderkind« ihr Wissen vor, und ihr Vater sorgte mit größtem Eifer für weitere Gelegenheiten.

Geboren wurde sie im Jahre 1718. Sie starb 1799. Dazwischen liegt eine Zeit unzähliger Ehrungen, Lobpreisungen und Würdigungen in den Zeitungen ihres Heimatlandes Italien. Als sie fünf Jahre alt war, wurden ihr zu Ehren Sonette gedichtet: »Sie spricht wunderbar französisch«. Im Alter von neun Jahren soll sie bereits auf Abendgesellschaf ten Reden über das Frauenstudium auf Lateinisch gehalten haben.

Anschließend lernte sie noch Griechisch, Deutsch, Spanisch und Hebräisch: Zusammen mit ihrer Muttersprache konnte sie damit am Ende insgesamt sieben Sprachen. Prompt feierte sie die Lokalpresse als »oracolo settelingue«, als siebensprachiges Wunder. Zusätzlich hatte sie Mathematik, Physik und Philosophie gelernt.

Ihr Vater sah die Früchte des intensiven Privatlehrereinsatzes mit Freuden. Insgesamt hatte er 21 Kinder. Diese seine älteste Tochter jedoch eröffnete ihm mit ihrer Berühmtheit die Tore der Reichen und des Adels, in den er sich 1740 einkaufte.

In diesem Jahr machte die junge Gelehrte Schluss mit ihrem Leben eines auf Mathematik und Philosophie dressierten Schoßhündchens: Andernfalls werde sie ins Kloster gehen, drohte sie ihrem Vater. Der ging auf die Forderung ein, und das Wundermädchen konnte sich endlich ernsthaft der Theologie und der Mathematik widmen. Bei letzterem interessierte sie sich vor allem für die Infinitesimalrechnung.

Ab 1745 korrespondierte sie mit dem Mathematiker Jacopo Riccati — es blieb jedoch ihr einziger Briefkontakt zu einem bekannten Mathematiker ihrer Zeit. Drei Jahre später verfasste sie ein Lehrbuch; das ihr zu einiger Bekanntheit auch in wissenschaftlichen Kreisen verhelfen sollte. »Instituzioni analitiche ad Uso della Gio ventu Italiana« — Lehrbuch der Analysis für die italienische Jugend. Diese sah das Buch allerdings wohl kaum, denn es war nicht im Handel erhältlich und wurde nur an einige berühmte Persönlichkeiten und Akademien versandt. Allerdings wurde das Werk, eines der ersten Lehrbücher über die Infinitesimalrechnung, noch auf Englisch und auf Französisch übersetzt. Davor hatte es nur zwei Lehrwerke zu diesem Thema gegeben: Eines von L'Hospital und eines von Charles Reyneau.

Ebenfalls 1748 erschien das Analysis-Lehrbuch von Leonard Euler und zwei Jahre später ein Buch von Gabriel Cramer. So war die Lücke, welche die gelehrte Dame für sich gefunden hatte, von anderen erfolgreicher geschlossen worden. Immerhin hatte sie sich durch ihr eigenes Werk einen gewissen Ruf als Mathematikerin erworben, der auch nach ihrem Tode noch fort lebte.

Wer war die vielsprachige Lehrbuchverfasserin?

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