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Rätselgedichte, Rätselreime

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Rätselgedicht Nr. 6466

von Karl Julius Fridrich

Rätsel

Das Rätsel in zwölf Stanzen

1. Verschleiert siebenfach, zu euch
Gesendet aus dem Geisterreich,
Tret' ich in eure Mitte,
Mit abgemessnem Schritte. –
Mein Haupt umflicht ein magisch Band,
Leicht hält mein wolkiges Gewand
Ein Strophion zusammen,
Geziert mit Hierogrammen.

2. Und auf der goldnen Lyra schwebt
Phantastisch meine Hand und strebt,
In wundersamen Bildern
Mein Wesen euch zu schildern.
Am heil'gen Jordan und am Nil,
Dem Hauptverhüllten, wurde viel
In meinem Geist gesungen,
Und hoher Preis errungen.

3. Drum wind' auch ich im Heiligtum
Zu Blumen aus Elysium
Der Weihe Zweig als Krone,
Einst dem zum Siegerlohne,
Der meines Hauptes Bind' entblößt,
Den Zauber meines Gürtels löst,
Die heil'ge Schrift erkennet,
Und meinen Namen nennet.

4. Ich bin so alt, als wie die Welt;
Bald wink ich euch vom Sternenzelt,
Bald in des Äthers Blitzen,
Bald von des Hades Sitzen;
Ich fliege die Kometen꞊Bahn,
Ihr staunet mich im Nordlicht an,
Und im Magnet, der Eisen
Anzieht, wie ich den Weisen.

5. Wohl gleich' ich der Erkenntnis Baum;
Ihr habt von mir genossen kaum,
So scheint vor euren Sinnen
Ein Nebel zu zerrinnen.
Doch immer wieder zeigt Natur
Euch meines stillen Daseins Spur,
Zumal – der Stolz verhehle
Sich's nicht! – in eurer Seele.

6. Mein Vater, als er mich entließ,
Sprach warnend: »Kind, wohl merke dies!
Schon brennen viel der Freyer
Zu lüpfen deinen Schleyer.
Sei auf der Hut! Enthülle nie
Den kleinsten Reiz! sonst werden sie
Sich nicht um dich bemühen,
Ihr Eifer wird verglühen!«

7. »Nur im Geheimnis, Kind! besteht
Dein stärkster Zauber; er vergeht,
Hält glühendes Verlangen
Dich gürtellos umfangen.
Drum schwebe her und schwebe hin,
Täusch' ihren liebedürst'gen Sinn;
Lock' immer sie vom Wege
Auf neue dunkle Stege.«

8. »Der dich am Bache schlummernd glaubt,
Sei seiner Hoffnung schnell beraubt,
Er höre dich im Haine!
Und wenn er bei dem Scheine
Des neuen Irrlichts, sich im Sumpf
Um dich verliert, sei dein Triumph,
Dass er, kaum daraus entkommen,
Dich such', aufs neu entglommen.«

9. »Der folge dir zur Felsenkluft!
Dem rufe zu aus hoher Luft!
Der werd' ins Grab der Wogen
Durch dich hinabgezogen!
Den fliehen musst du, der dir naht,
Und, irret er zu weit vom Pfad,
Ihm selbst süßlockend nahen,
Als dürft' er dich umfahen.«

10. »Entfernt und angezogen so,
Werd' er nicht eh des Lebens froh,
Bis ihm es mag gelingen
Dein Jawort zu erzwingen.
Dies, Kind! ist die verborgne Kunst,
Wodurch du in der Menschen Gunst
Dich immer wirst erhalten;
Sie sind ja stets die Alten!«

11. »Selbst an der Weisheit lieben sie
Die Zauberhülle der Magie;
Und für das Wunderbare
Verschmähen sie das Klare. –«
Hier schwieg mein Vater, und ich ging.
Du, der der Weisheit Tauf' empfing,
Wirst, was er sang, verstehen,
Und mich von Antlitz sehen.

12. Noch fasse dies mit ernstem Sinn:
Du bist und bleibest, was ich bin,
Dir selber stets hienieden;
So hat's dein Loos entschieden! –
Doch wenn einst in der Geisterwelt
Der Schleyer dir vom Auge fällt:
Dann werd' ich dir verschwinden
Und du wirst Ruhe finden.

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Das Rätsel

Anmerkungen

Ein Strophion ist die Stirnbinde der griechischen Frauen und Priester, auch Gürtel; bei den römischen Frauen ein Busenband, welches unter den Brüsten zur Aufrechterhaltung derselben getragen wurde.

Ein Hierogramm (gr. hiero = heilig und gramm = Schrift/Zeichen) ist ein religiöses Piktogramm, also ein formelhaftes graphisches/bildliches Zeichen mit festgelegter Bedeutung. Hierogramme waren in schriftloser Zeit die Erkennungszeichen für sakrale Objekte, Darstellungen oder Orte.

Der Weihe Zweig: Zeichen der Einweihung in die Etruskischen Mysterien.

Hades bezeichnet in der griechischen Mythologie den Totengott und Herrscher über die Unterwelt, die ebenfalls Hades genannt wurde.

Quelle

Friedensblätter, eine Zeitschrift für Leben, Literatur und Kunst (1814), S. 267f

Verweise

Worträtsel, Fridrich