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Rätselgedichte, Rätselreime

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Rätselgedicht Nr. 4997

von Alfred Neumann

Rätsel

Die unbekannte Blume

Es war im Mai. Längst war schon die Natur erwacht,
Die langen Nächte waren um, die kurzen Tage.
Schon stand der Baum in Blüte, ließ die Blumenpracht
Vergessen sprießen über alle Winterplage.
Ein junger Dichter zog da durch den Buchenwald
In schwerer Grübelei. Ihm lag im Sinn, zu schreiben
Ein Buch, das allem, was sein Herz durchdrang, Gestalt
Sollt geben, seiner Seele mystisch-frommen Treiben.

Wie jung der Dichter war! Und doch, das Wörtchen »Sterben«,
Ein inn'rer Sänger sang's ihm schon so manches Jahr,
Und ließ ihn ahnen, dass ein zehrendes Verderben,
Ein frühes Schwinden vor der Zeit sein Schicksal war.
So zog er durch den Wald und hörte aus den Buchen
Geheimnisvolles Rauschen das Gezweig durchdringen,
Und als ers unternahm, des Raunens Sinn zu suchen,
Da hört' er immer wieder flüstern: »Ofterdingen« ...

Und plötzlich hemmte zweierlei des Dichters Schritt:
Ein Duft, wie er ihn niemals noch zuvor genossen,
Und eine Huldgestalt, die durch die Wiesen glitt,
Dieweil von ihrem Haupt gleich Blitzen Lichter schössen.
Sie trat zu ihm und nahm ihn lächelnd bei den Händen
Und sprach: »Mein Dichter, sei nicht länger mehr verzagt!
Wohl ist Dir's nicht vergönnt, Dein Wirken zu vollenden,
Doch höre, was die unbekannte Freundin sagt:

Der Duft, der Dich umweht, er wird Dein Werk beleben,
So oft Du seiner denkst, bist Du auch fern dem Wald;
Bleib wie Du bist, und wie ein Seher wirst Du geben
Ein Buch den tief gebeugten Menschen: bald dann, bald,
Wird man voll Dank Dein Werk fast bis zum Himmel heben.
Wohl könnte meine Gunst Dir reichsten Hort erwerben,
Doch Du, mein zarter Geist, Du taugst nicht für die derben,
Die schnell sich stumpfenden Genüsse dieser Welt:

Wie rasch zerschellt der Kelch aus Gold in Scherben!
Drum wisse noch — der Duft, der Dir so wohlgefällt,
Er quillt aus einer Blume, die Du nie gesehen,
Und niemals sehen wirst, die nur verborgen blüht. Sie bleibe
Dein Symbol, nimm es von mir zum Lehen,
Die Blume dufte Dir stets nimmermüd.

Leb wohl, mein Freund ... es ruft ... ich muss nun weiterwandern,
Du aber bleib und warte ...Heinrich kommt zu Dir ...
Du weißt, was ich jetzt meine ... Lass die Welt den andern
Und denke an die Blume oft ... Nun scheiden wir.«
Und sie entschwand dem Blick. Er suchte lang und lange
Und suchte nach der Blume tief bis in die Nacht —
Er fand sie nicht, und herzensmüd und sehnsuchtsbange
Verließ den Wald er und die reiche Blütenpracht.

Und wenn der Dichter auch die Blume nicht gefunden,
Und wenn ihr Duft nur aus der Ferne zu ihm drang,
Und wenn er sterben musste, ohne zu gesunden —
Was ihm die Fee versprach, in seinem Lied erklang.

Ein Märchen hab in Rätselform ich hier gegeben,
Halb ist's erfunden nur; denn halb auch aus dem Leben
Hab ich gegriffen, was in diesem Lied ich sang.
Mein Leser, lass Dich nun als Rätsellöser sehen:
Wer war der Dichter und wie willst Du es verstehen,
Welch Deutung trägst Du im Gemüt,
Wenn an Dein Ohr die Mär von einer Blume drang,
Die herrlich duftet, aber nur verborgen blüht?

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Novalis, die Romatik

Anmerkungen

Der junge Dichter ist Novalis; das unvollendete Werk ist Heinrich von Ofterdingen; die Blume ist die Die blaue Blume, in der Romantik ein Symbol für Sehnsucht und Liebe.

Novalis (* 2. Mai 1772 auf Schloss Oberwiederstedt; † 25. März 1801 in Weißenfels), eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, war ein deutscher Schriftsteller der Frühromantik und Philosoph.

Heinrich von Ofterdingen ist ein Fragment gebliebener Roman von Novalis. Der Titel verweist auf einen sagenhaften, historisch bisher nicht belegbaren Sänger des 13. Jahrhunderts, der u. a. aus dem mittelhochdeutschen Epos Sängerkrieg auf der Wartburg.

Die blaue Blume ist ein zentrales Symbol der Romantik. Sie steht für Sehnsucht und Liebe und für das metaphysische Streben nach dem Unendlichen. Die blaue Blume wurde später auch ein Sinnbild der Sehnsucht nach der Ferne und ein Symbol der Wanderschaft. Als reale Vorbilder der blauen Blume werden oft heimische Pflanzen angesehen, in Mitteleuropa etwa die Kornblume oder die Wegwarte; Novalis spricht vom blauen Heliotrop.

Verweise

Worträtsel, Neumann