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Rätselgedichte, Rätselreime

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Rätselgedicht Nr. 5245

von Carl Töpfer

Rätselgeschichte

Das schreckenvolle Ereignis

»Nichts Neues, Bester?« fragte der Rentier Frosch, einer der neugierigsten Leute in der Stadt, den jungen Assessor Luftig, ihn beim Arme nehmend und am Weitergehen hindernd.

»Wissen Sie schon, was vorige Woche dem Baurat Keller begegnet ist,« erwiderte der Assessor, indem seine Züge einen Ausdruck von Wichtigkeit annahmen, der das Neugierthermometer des Rentiers bis auf den Siedepunkt steigen machte.

»Kein Wort!« sprach dieser, sich fest an den Assessor anklammernd, »lassen Sie hören, was passierte dem ehrlichen Baurate?«

»Wir waren am Sonnabend zum Tee in einem Garten vor der Stadt zusammen eingeladen,« nahm der Assessor das Wort, »ich hatte Keller versprochen, ihn abzuholen, welches geschah. Er ging mit mir hinaus, war heiter und gesprächig, keine Spur einer Ahnung von dem was ihm draußen bevorstand, schien seine Seele zu erfüllen.«

»Sie spannen mich auf die Folter,« unterbrach ihn Frosch »was stand ihm bevor?«

»Geduld,« erbat sich der Erzähler, »soll ich Ihnen das Ereignis mitteilen, so unterbrechen Sie mich nicht wieder, ich bin gewohnt amtsmäßig zu berichten und nicht beim Ende anzufangen. – Keller sprach unterwegs über Essen, Trinken, Lustbarkeiten, bot mir mehrere male eine Prise Tabak an, so dass ich über die gleichmütige Stimmung seines Innern durchaus nicht in Zweifel bleiben konnte. Wir kamen an. Die Hitze war beinahe unerträglich. Es hatte sich in Südosten ein blaugrauer Wolkenkoloss gelagert und kein Lüftchen regte sich: die Furcht, dass die inhaltschwere Masse urplötzlich durch einen Sturm heraufgetrieben werden würde, um sich zu entladen, war in der Gesellschaft allgemein; aber keiner ließ es sich träumen, dass jenes Entladen ein so schreckenvolles Unterbrechen geselliger Fröhlichkeit bewirken, dass es zunächst sich auf unsern wackeren, allgemein geschätzten Keller beziehen könne.«

Frosch bebte.

»Wir saßen gemütlich um den Tisch im Pavillon,« fuhr der Erzähler fort; »denn schon begannen schwere Regentropfen die Ankunft des furchtbaren Wetters zu verkünden. Aber noch hatte kein Donner die zarten Gehör=Nerven der Damen erschreckt, noch kein flackernder Blitzstrahl die Augen geblendet. Keller fröhlich wie zuvor, war unerschöpflich in Späßen; man ergötzte sich an seinen Einfällen, und des drohenden Himmels wurde in Scherz und Gespräch vergessen. Dennoch waren vorsichtig Tür und Fenstern des Pavillons geschlossen worden, teils um dem Regen den Eingang zu verwehren, teils, weil das furchtsame Geschlecht sich so gesicherter gegen den Blitz hielt. Ach! Wen der tötende Strahl sich ausersieht, den schützt kein Verschließen: er wird getroffen, und zwar er allein, war er auch mit Hunderten umgeben!«

Frosch erblich.

»Man bat Keller, zu singen,« nahm der Assessor den Faden seiner Erzahlung auf; »er schickte sich an ,In diesen heil'gen Hallen' mit einer Bassstimme vorzutragen, die, wie Sie wissen, die Fenster erbeben macht. Doch besann er sich anders. ,Für die Kraft meines Tones bin ich in dem kleinen Raume Ihnen, meine Damen, zu nahe,' sprach er, , ich stelle mich dort unter jene Linde vor dem Pavillon, Sie lassen die Türe offen, und so wird mein Gesang die erwünschte Wirkung haben.' – Dieser Entschluss war sein Unglück!«

»Du großer Gott!« zitterte Frosch, »wär' er doch sitzend geblieben!«

»Ja wär' er sitzend geblieben!« wiederholte der Assessor, und begann dann die Katastrophe wie folgt zu verkünden. »Man stellte dem Baurat vor, wie gefährlich es sei, bei dem Ausbruch eines Wetters unter einem Baume zu stehen; man verwies ihn auf Luthers trauriges Schicksal, man verbat sich den Gesang, umsonst! der Eigensinnige bestand auf seinen Vorsatz, öffnete die Türe und ging hinaus. Ich muss gestehen, es gewährte einen schauerlich-schönen Effekt, wie er dastand, dem düstern Blätterdache, in der zornerfüllten Atmosphäre, der furchtlose Mann. Er erhob seine Stimme, aber der Sturm verwehte einen Teil des Klanges. Wir hätten den Kühnen gerne mit Gewalt hereingezogen – doch fesselte uns das romantische der Gruppe und das mysteriöse des halbgehörten Mozartischen Liedes mit zauberischer Gewalt unbeweglich an unsere Stühle. Freudigen Mutes singt er:

In diesen heil'gen Hallen
Kennt man die Rache nicht,
Und ist ein Mensch gefallen
Führt Liebe

Gerade bei dem zarten Wort ,Liebe,' in dem Augenblick, wo er eine geschmackvolle Kadenz anzubringen im Begriffe steht, trifft ein dröhnendes Geprassel unser Ohr – es war nur ein Moment, aber es war ein entsetzlicher Moment – die Züge des Sängers auf das fürchterlichste entstellt – Sein Körper zusammengekrümmt – seine Augen geschlossen – Die Damen fahren von den Stühlen auf vor Schrecken – die Arie, die feierliche Stimmung – nun plötzlich, dieser Anblick – Keller – erlassen Sie mir das Übrige zu erzählen, ich kann nicht ohne Schauder an jene fürchterliche Unterbrechung zurückdenken.«

So sprechend machte er sich von Frosch los und schritt eilig die Straße dahin.

»Vom Blitz erschlagen!« seufzte der Rentier auf, »Keller vom Blitz erschlagen! Eine Frau hinterlässt er und fünf Kinder – ich will doch zu ihr hin, ich muss doch sehen, wie sie sich nach dem Tode ihres Mannes eingerichtet hat.«

Eine Kondulationsrede ausstudierend stieg der Rentier Frosch die Treppe in des Baurats Hause hinan. Es war bereits finster geworden. Er klopfte leise an die Türe, welche zu dem Studierzimmer des Seligen führte. Keine Antwort. Er klinkte am Drücker, die Türe war offen. Er trat in das Gemach und fand alles im unveränderten Zustande wie sonst. Das Fortepiano stand geöffnet da, und kürzlich erst schien darauf gespielt worden zu sein. Das Zwielicht, der Gedanke an den abgeschiedenen Eigentümer, erregte dem Rentier ein Grauen und er fasste den Entschluss, das unheimliche Lokal wieder zu verlassen. Da öffnet sich die Nebentüre – eine Gestalt in Schlafrock und Pantoffel steht vor dem Erschrockenen:

»Wer ist es,« brummt ein fürchterlicher Bass, und dem armen Frosch klappern die Zähne; es ist die Gestalt und die Stimme des Erschlagenen.

»Alle guten Geister loben Gott den Herrn!« stottert Frosch und zieht sich nach der Tür hin zurück. Aber der entsetzliche Schlafrock macht ein Paar große Schritte auf ihn zu, und schon glaubt der Rentier, sein letztes Stündlein habe geschlagen.

»Nun, wer tappt denn in Kuckucks Namen da herum?« fragt die Stimme, aber keineswegs in einem Geistertone, und die kräftige Hand des Baurates, den Rentier beim Kragen erwischend, sagt diesem ziemlich deutlich, dass er es mit einem lebendigen Menschen zu tun habe.

»Ich bin es, wertester Freund,« stottert Frosch, »aber um des Himmelswillen, sind Sie denn von dem Wetterschlag schon wieder kuriert?«

»Wetterschlag?« brummt Keller, den Rentier erkennend und ihn loslassend, »ich glaube, Sie faseln.«

»Sind Sie denn nicht vom Blitz erschlagen worden?« fragt Frosch.

»Hat Ihnen Jemand einen Bären angebunden?« fragt der Baurat entgegen.

Nun erzählt der Rentier des Assessors Bericht gewissenhaft, mit dessen eigenen Worten und schließt mit der Drohung, für diese Lüge an dem Windbeutel eine volle Revanche nehmen zu wollen.

»Hat Ihnen kein Wörtchen vorgelogen,« erwidert Keller, »alles hat sich buchstäblich so zugetragen – aber, wie Sie sehen, der Blitz hat mich glücklicherweise verschont.«

So viel auch der Rentier in den Baurat drang, ihm die Sache aufzuklären, dieser blieb unerbittlich, und der getäuschte Frosch verließ den Blitzerschlagenen, der ihn unter einem vollen Bassgelächter die Treppe hinab komplimentierte, mit der Versicherung: »Ich werde es schon herausbringen – ich werde schon erfahren, wie es zusammenhängt – ich gehe zu all' den Leuten in der Stadt, die den Almanach Turandot halten, die sind im Raten geübt, von ihnen lass ich mir das Rätsel auflösen!

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(unbekannt)

Anmerkungen

Almanach Turandot ist die Zeitschrift, in der das Rätsel veröffentlich wurde.

Verweise

Rätselgeschichten, Töpfer