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Rätselgedichte, Rätselreime

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Rätselgedicht Nr. 4564

von Jens Baggesen

Rätsel

Das Rätsel aller Rätsel hier im Leben,
Bin ich doch keinem Mann noch Weibe fremd,
Obgleich mich viel' erblicken nur mit Beben,
Zumal um Mitternacht im bloßen Hemd;

Denn was unendlich mystisch Wunderbares,
Und fast Gespenst'ges möcht' ich sagen, klebt
An meinem Innern, selbst wenn gar nichts Rares
Mein Äuß'res in der Menschen Augen hebt.

Gleichgültig gehen mir vorbei die Meisten,
Weil eben nichts gemeiner ist als ich
(Denn selbst die jenseits Nova-Zembla reisten,
Und außer Frost nichts fanden, fanden mich);

Doch staunen über mich nunmehr auch viele,
Die über nichts im Leben sonst gestaunt,
Seitdem ich selber dies und das im Spiele
Den Forschern der Natur ins Ohr geraunt.

Schon seit dem Sündenfall war Mod' ich hier auf Erden;
Doch viel von mir zu sprechen war nicht Brauch;
Jetzt scheint auch dieses Mod', auch selbst im Druck, zu werden;
Die höchste, glaubt man gar, ich selber glaub' es auch –

Man spricht und schreibt von mir bei jeder geist'gen Zeche,
Bei jeder Geister- und Gespenster-Osterfei'r,
Geheim und öffentlich, seitdem ich selber spreche,
Trotz Wagner, Hegel, oder Eschenmei'r.

Der seit Jahrtausenden die ganze Welt entgeistert
(So kam's ihr wenigstens und auch mir selber vor),
Ich habe jetzt mich der Begeisterung bemeistert,
Und bin der Pythius in deutscher Musen Chor.

Man betet jetzt mich an, die größten Heil'gen neigen
Sich vor der Wunderkraft, die sich in mir tut kund,
Die Mystik selbst verstummt, all' ihr' Orakel schweigen,
Der Teufel gar hält's Maul, eröffn' ich nur den Mund.

Ich habe doch, weiß Gott, nichts Neues unternommen,
Ich war zu faul dazu; ich in ganz wie im Schlaf
Zu dieser großen Pracht und Herrlichkeit gekommen;
Denn unter uns, ich bin noch dümmer als ein Schaf.

Zwar das verhindert nicht die Herrlichkeit im Leben,
Allein ich bin zugleich natürlich, allzumal
Voll Unschuld, sehr zerstreut, ganz Bonhomie, daneben
Auch konstitutionell, und ziemlich liberal.

Mit allem dem bin ich nicht unbeliebt bei Hofe,
Und gegen mich hat nichts die hohe Geistlichkeit,
Ich bin der Liebling der Prinzessin, und der Zofe,
Des Königs und des Knechts, und oft zu gleicher Zeit.

Unwiderstehlich zwar sind meiner Unschuld Reize
Dem kält'sten Stoiker, und selber der Asket,
Wie sehr er gegen Sinnverführung auch sich kreuze,
Streckt das Gewehr zuletzt, wenn er mir widersteht.

Ich bin das Ideal bezaubernder Verführung,
Gold, Schönheit, Ruhm, und Spiel sind reizlos im Vergleich,
Doch bin ich selbst dabei gemeinlich ohne Rührung,
Darin den sämtlichen Nachahmerinnen gleich.

Was drum von Alters her der Schlang' im Paradiese,
Dem leid'gen Satan selbst auf Rechnung ward gesetzt,
Der erste Reiz zur Sünd' auf jener Unschuldswiese
Wird mir Unschuldigem ganz zugeschrieben jetzt.

Man sagt, ich habe gar den Satan selbst gerühret
Im Himmel durch der Unschuld Urgestalt,
Und den Lichtträger erst zum Lichtauswehn verführet
Mit meiner finstern Anmut Nachtgewalt.

Verführt ist nicht das Wort. Ist damals mir gelungen,
Ihn zu vernarrn, geschah's gewiss ohne alle List,
Ich überwältigt' ihn, nachdem er lang gerungen;
Das wird er selbst gestehn, wenn mehr als Lüg er ist.

Ich je verführen! ich! auch nur den dümmsten Bengel?
Ich schrecke wer mich schaut zum ersten mal;
Wen ich berühr' erstarrt, wie vor dem Todesengel
Dahingeschmettert von des Himmels Donnerstrahl.

Entsetzlich bin ich auch bei daurender Besichtung,
Und in der Regel starr, und stumm, und taub, und blind,
In aller Ewigkeit Menechmin der Vernichtung,
Wenn anders Sein und Schein darin Menechmen sind.

Nein! ich verführe nicht die Wesen, ich bezwinge
Sie alle, mein Triumph auf Erden ist kein Wahn.
Auf Erden? Überall! Das ganze Reich der Dinge,
Die ganze Schöpfung ist mir Mächt'gem untertan.

Ich überwält'ge selbst die stärksten Lebenstriebe
Der mich bekämpfenden lebendigen Natur,
Denn meine Macht, vernehmt's! ist größer als der Liebe,
Des Lebens und des Lichts, und weicht der Allmacht nur.

Jetzt, glaubt ihr mich im Wort, wie im Verstand gewärtig;
Das ist es! ruft ihr aus, und lacht vor Freud' und hüpft –
Hüpft nicht zu hoch! denn wisst, mein Bild ist noch nicht fertig –
Wie? wenn es wieder euch beim nächsten Zug entschlüpft?

Ich bin dem, der mich hat, gewiss nicht da; denn wär' ich
Ihm zuverlässig da, hätt' er mich sicher nicht;
Wenn ihr mich leider habt, was möglich ist, erklär' ich
Des Rätsels Dichter für 'nen Midas ins Gesicht.

Kann in so kurzer Zeit sein Dichten das vollbringen,
Dass ihr des Rätsels Kern und Schlüssel wirklich habt;
Dann ist auch seine Sphinx, statt mit des Flugpferds Schwingen,
Mit langen Eselsohren nur begabt.

Lösung anzeigen

(unbekannt)

Anmerkungen

Nova-Zembla (Nowaja Semlja, russ. »neues Land«) ist eine russische Doppelinsel, die westlich der innereurasischen Grenze im Nordpolarmeer liegt und zu Europa gezählt wird.

Phytius ist ein Beiname des Apollon, welchen er von Python erhielt, den er tötete. Apollon ist in der griechischen Mythologie u. a. der Gott der Künste; der Python ist eine Schlange, die das Orakel von Delphi bewachte.

Menaechmi ist eine lateinische Komödie von Plautus. Der deutsche Name für dieses Stück ist Die beiden Zwillinge. Es wurde 200 v. Christus in Rom uraufgeführt. Im übertragenen Sinn steht »Menechmi« für »Ebenbild«: In aller Ewigkeit Ebenbild der Vernichtung, // Wenn anders Sein und Schein darin Ebenbilder sind.

Verweise

Worträtsel, Baggesen